BLOG Nr. 11

Ende November und Anfang Dezember findet in Chemnitz unter der Schirmherrschaft des Bundesaußenministeriums das erste deutsch-tschechische Regionalforum statt. Eingeladen sind nicht nur Vertreter verschiedener Institutionen, sondern auch die breite Zivilgesellschaft. Es geht also los.

Für Ein Jahr an der Grenze und für mich selbst. Ziel ist es, Akteure von beiden Seiten der Grenze zusammenzubringen, mit besonderem Augenmerk auf die Probleme und Gelegenheiten der Grenzregionen. Sie sind, wie es in der Pressemitteilung heißt, „die Treffpunkte Europas und eine der Säulen des Zusammenhalts in der Europäischen Union.

Wenn es hier hakt, gerät der Motor der europäischen Integration ins Schleudern.“ Aber bisher läuft alles reibungslos, ich sitze im Morgenzug nach Cheb (Eger), von dort plane ich, in Hof umzusteigen und in viereinhalb Stunden in Chemnitz-Siegmar auszusteigen. Ich trinke Tee und schaue aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Schneelandschaft.
Im Zug nach Hof lese ich Winterbergs letzte Reise von Jaroslav Rudiš, und bald beginnen Realität und Fiktion zu verschmelzen. Winterberg fährt nach Sadová (Sadowa), ich an die Grenze, rohe Felder, Wälder, winterliche Frühnebel. „Die Reisenden nach Aš (Asch) steigen in Hazlov (Haslau) um“, wird plötzlich mit heiserer Stimme gesagt. Wie nach Aš? Ich fahre nach Hof! Ich kehre schnell in die Realität zurück. Der Schaffner erklärt
brüsk, dass die Deutschen keine „Maschinen“ haben und dass sie nicht wissen, wann sie sie haben werden, vielleicht am Nachmittag, vielleicht morgen… „In zwei Stunden fahren wir zurück nach Cheb, gnädige Frau, mehr werde ich Ihnen jetzt nicht sagen“, fügt der Schaffner hinzu. Nun gut. Ich steige an der Haltestelle Aš – Stadt aus. Kein Mensch weit und breit, überall ist es kalt. Die Deutschen geben sich hier keine Mühe mit dem Busersatzverkehr.

Es stellt sich heraus, dass ich der Einzige im Zug nach Deutschland bin. Ich sehe mich erfolglos nach einem Bahnhof um, in dem es wenigstens einen Kaffeeautomaten gibt, aber Aš scheint heute das Ende der Welt zu sein. Das Bahnhofsgebäude im Brüsseler Stil, entworfen vom Architekten Dandy, wie ich später erfahre, wurde Anfang des Jahres abgerissen, weil es für die Strecke überdimensioniert und längst baufällig war. Doch vorher war er lebendig! Der ursprüngliche, großzügige Bahnhof wurde1865 von den Bayerischen Ostbahnen eröffnet, zusammen mit der Strecke von Selb nach Cheb, wo später die Linie hinführte, die den nordwestlichen Außenposten Österreich-Ungarns mit Wien, Pilsen und České Budějovice (Böhmisch Budweis) verband. Vielleicht ein Bus? Wir sind nur noch einen Kilometer von der Grenze entfernt! Nein, erklärt mir der ČSAD-Busfahrer, der gerade zu Mittag isst, dass sein Unternehmen diese Strecke gar nicht bedient.

Mir ist kalt, also suche ich nach einem Café oder einem Ort zum Aufwärmen. Was würde Winterberg tun? Er würde sicher nicht zurückkommen! Ich versuche, mir einen Plan B auszudenken.

So fahre ich mit demselben Schaffner, der immer noch nichts weiß, von Cheb nach Marktredwitz, nach Zwickau und reibungslos nach Chemnitz zurück und denke an den Freiheitszug von 1951, der sich gar nicht um Aš kümmerte und mit der ahnungslosen Mehrheit der Fahrgäste einfach durch den Bahnhof von Aš nach Westdeutschland fuhr.

Die Konferenz ist noch in vollem Gange. Auf dem Podium wechseln sich einflussreiche Persönlichkeiten ab, allgemeine Phrasen über die besten deutsch-tschechischen Beziehungen der letzten Zeit werden gelegentlich von einer konkreten Bemerkung über die Realität der Grenzbeziehungen unterbrochen. Ich taue auf. Es folgen Workshops. Die Themen drehen sich um Pendler, den Arbeitsmarkt und Bahnverbindungen. Natürlich beziehe ich meine morgendliche Geschichte mit ein. Ich interessiere mich außerdem für die Verbindung des IRS (integriertes Rettungssystem) entlang der Grenze zu Bayern, wo das Projekt Babylon seit über einem Jahr in der Region Karlovy Vary (Karlsbad) und in Oberpfalz in Betrieb ist, wo der Krankenwagen, der am nächsten an der Grenze ist, zum Verletzten fährt, unabhängig von der Grenze. Das System kann die erhaltenen Informationen über die Situation in beide Sprachen übersetzen. Das ist großartig. Ich hoffe, dass sich das System auch auf den Rest der Grenzregion ausbreitet.

Am Freitagmittag verabschiede ich mich von Chemnitz. Sorglos steige ich in den Zug, ein weiteres Kapitel von Winterberg. Aber wir warten schon lange in Hof. Mein ungutes Gefühl bestätigt sich. In diesen Tagen über die
Grenze zu kommen, ist fast eine übermenschliche Aufgabe. Der Deutsche behauptet, dass der Tscheche, mit dem er sich diese Strecke teilt, nicht angekommen ist und vertreibt uns aus dem Zug. Weitere Informationen sind nicht zu erhalten. Keiner hat sie. Das Problem liegt jetzt auf der
tschechischen Seite. Revanche? Die DB-Auskunft gibt vor, zum ersten Mal von dem Ausfall zu hören, obwohl ich von einem Mitreisenden erfahre, dass es keinen Mittagszug gab, und empfiehlt den – mir schon bekannten – Umweg über Marktredwitz. Mir ist kalt. Wir warten zwei Stunden lang. Ich
spreche mit Peter, der über die Grenze fährt, um zu arbeiten – seit einem Jahr, von Montag bis Freitag. Er spricht kein Deutsch, aber er sagt, dass er gut verdient. Aber seine deutschen Kollegen bekommen 6 Euro mehr pro Stunde für die gleiche Arbeit. Wenn man sich darüber beschwert, geht
man. Peter beklagt sich nicht, er hat seine Schulden abbezahlt, er und seine Frau sind letztes Jahr zum ersten Mal ans Meer gefahren. Wie lange diese Beziehung halten wird, weiß er nicht.

Die Realität.
Ich steige abends in Planá (Plan) aus und kratze an der gefrorenen Windschutzscheibe des Autos, das mich endlich ins Warme bringt.

Kamila Jůzlová