BLOG Nr. 17

„Für wen machen wir das alles hier eigentlich?“ Diese mehr als berichtigte, geradezu zentrale Frage stellen wir uns nicht nur im Projekt Ein Jahr an der Grenze immer wieder. Alle, die ihre Zielgruppen konkreter als mit „irgendwie alle“ beantworten, versuchen mehr über die Bedürfnisse und Motivation jener Menschen zu erfahren, an die sie sich wenden. Bildungsträger, aber auch Marketingfirmen und Tourismusverbände nutzen dafür immer häufiger die Persona-Methode. Dabei werden Urtypen von Nutzerinnen und Nutzern mit bestimmten Merkmalen und Charaktereigenschaften, Erwartungen, Zielen und Bedürfnissen entworfen.Um mit ihnen ein fiktives Gespräch führen zu können, erhalten sie Namen, Gesichter und einen individuellen Lebenslauf.

Danny S. (32) aus Nürnberg zum Beispiel verbringt mit seiner Freundin Judith und ihrem 8jährigen Sohn jedes Jahr den Sommerurlaub im Fichtelgebirge. Outdoor-Aktivitäten und gastronomisches Angebot stehen für die junge Familie im Vordergrund. Sie gehört zur adaptiv-pragmatischen Zielgruppe, flexibel, weltoffen und digital. Trotz hoher Leistungs- und Anpassungsbereitschaft dürfen Spaß, Komfort und Unterhaltung nicht zu kurz kommen.

Regina S. (54) aus Dresden hingegen zeigt stärkeres Interesse an Kunst und Kultur. Die Diplom-Geologin kombiniert eine liberale Grundhaltung mit kritischer Weltsicht und dem Ziel der Selbstentfaltung, typisch für das liberal-intellektuelle Milieu.

Wir wollen sie bei Ihrem Urlaub ein wenig begleiten. Nach der Südamerika-Rundreise im Vorjahr verbringt sie ihren Frühjahrsurlaub dieses Mal im sächsischen Vogtland. Ihre Vorfahren kommen alle aus dem Örtchen Liebenstein, heute Líba, zwischen Hohenberg an der Eger und Franzensbad. Wenn sich Regina und ihr Lebensabschnittsgefährte Rainer auf Spurensuche begeben, und hier nehmen wir eine Quintessenz dieses kleinen Gedankenspiels voraus, machen sie keinen Unterschied, auf welcher Seite der Landesgrenze, in welchem bayrischen Regierungsbezirk oder in welchem Bundesland sie sich befinden. Überall laden sie Museen, Gedenkstätten und Veranstaltungen zur Reise in die Vergangenheit ein. Außer montags – versteht sich – da haben grenzübergreifend die meisten Museen geschlossen. Eine rühmliche Ausnahme bildet die Burg Loket (Elbogen) zwischen Sokolov und Karlsbad. Rainers Augen glänzen beim Betrachten des dort ausgestellten Porzellans, denn das ist sein Lieblingsthema. Ein Besuch in beiden Standorten des Porzellanikons, des Staatlichen Museums für Porzellan, in Hohenberg und Selb ist also gleich am Dienstag Pflicht. Die Grube Tannenberg, ein Schaubergwerk mit über 600 Meter langem Stollen, in dem seit dem 15. Jahrhundert Eisenerz abgebaut wurde, muss auch besucht werden.Schließlich ist man vom Fach.

Und so ist die erste Hälfte des Urlaubs schon fast rum, als sich Regina und Rainer an das Thema historisches Egerland, Alltag, Flucht und Vertreibung wagen. Das Egerlandmuseum in Marktredwitz ist die zentrale Institution in der Region. Es inszeniert eine typische Bauernstube – auf dem Gut Miltigau/Milíkov, einer Zweigstelle des Museums Cheb, kann ein ganzer Bauernhof besichtigt werden- und stellt die böhmischen Kurstädte und das Badewesen vor – ebenso das Sächsische Bademuseum in Bad Elster und das Stadtmuseum Franzensbad.

Es folgt eine Ausstellung zum Thema Vertreibung seit 1945. Das Jahr 1938 allerdings findet im Egerlandmuseum keine Erwähnung. Das Zusammenleben und die Konflikte vor und nach 1938 sind zentraler Bestandteil der neuen Ausstellung in Plesná (Fleißen) nahe Bad Brambach. Sie entstand in einem grenzüberschreitenden Projekt mit der Stadt Erbendorf: Das Museum Flucht – Vertreibung – Ankommen nimmt die Stadtgeschichte aber auch die Gegenwart mit der Perspektive von Flucht und Migration in den Blick. Im Museum Bayrisches Vogtland verbringen Regina und Rainer viel Zeit in der Abteilung Flüchtlinge und Vertriebene in Hof. Seit 2012 untersucht sie die Geschichte des Ankommens und der Integration der Vertriebenen in der Region und darüber hinaus in all ihren Facetten. Die Grenzlandheimatstuben im Dachgeschoss eines alten Egerländer Fachwerkhofs in Bad Neualbenreuth stapeln Relikte und Erinnerungsstücke an die alte Heimat auf und wirken wie aus der Zeit gefallen. Sie werden deshalb gerade neu überarbeitet.

Und in Sachsen? Im Stadtmuseum Auerbach widmet sich eine Dauerausstellung dem Schicksal der Heimatvertrieben im sächsischen Vogtland. Auf Schloss Voigtsberg in Oelsnitz, erfahren die beiden, wird eine Ausstellung zur Rolle des Schlosses als Ankunftsort für die „Aussiedler“ für nächstes Jahr vorbereitert. Die Auswahl ist groß, doch die Perspektiven sind sehr verschieden, stellen Regina und Rainer und auch wir in einer zweiten Schlussfolgerung fest. Die Detektive der Vergangenheit, die fiktiven Idealtypen wie die realen, finden in dieser spannenden Region, im Dreiländereck Bayern-Sachsen-Tschechien nicht nur unzählige Spuren und Relikte der Geschichte, sie geraten auch ins Spannungsfeld des Umgangs mit ihr. 
Und jene, die „Museum machen“, die Mitarbeitenden, Leiter/innen und Förderer dieser reichhaltigen Museumslandschaft? Sie sind keine Idealtypen, keine Personas. Sie sind Erben, Gestalter und Vermittler. Sie bringen die verschiedensten Perspektiven und Erfahrungen zur gemeinsamen Geschichte ein und tauschen sich darüber aus – auf vier Vernetzungstreffen im Frühjahr 2024, unterstützt vom Projekt Ein Jahr an der Grenze. Aber dazu später mehr! 

Steffen Retzlaff